Die ADOS-2 (Autismus-Diagnostische Beobachtungsskala-2) wird international zunehmend als diagnostisches Instrument kritisch hinterfragt und sollte nicht mehr als „Goldstandard“ in der Autismusdiagnostik betrachtet werden. Stattdessen gilt die klinische Expertise spezialisierter Fachkräfte heute als entscheidender Faktor für eine akkurate Diagnose. Namhafte Expert:innen, darunter Prof. Tony Attwood, Dr. Michelle Garnett und Dr. Devon MacEachron, haben auf wesentliche Einschränkungen von ADOS-2 im Rahmen der Autismus-Diagnostik hingewiesen:
1. Klinische Expertise als Goldstandard
Die heutige Autismusdiagnostik erfordert ein tiefes Verständnis für die breite Variabilität des Autismus und die Fähigkeit, individuelle Symptomatiken und Komorbiditäten (wie ADHS, Angststörungen oder Traumafolgen) zu berücksichtigen. Spezialisiertes Fachpersonal, das durch langjährige Erfahrung und spezifische Weiterbildung geschult ist, kann diese Komplexität besser erfassen als jedes einzelne diagnostische Instrument.
Der diagnostische Prozess ist dabei multidimensional:
• Erfassung multipler Datenquellen: Dazu gehören Anamnesegespräche, standardisierte Fragebögen, Entwicklungsberichte sowie Verhaltensbeobachtungen.
• Berücksichtigung moderner Erkenntnisse: Die Diagnostik wird individuell auf Geschlecht, Alter und mögliche Anpassungsstrategien (z. B. Camouflaging) abgestimmt.
Die Forschung bestätigt, dass erfahrene Kliniker:innen in der Lage sind, in den meisten Fällen ohne den Einsatz der ADOS-2 zuverlässige Diagnosen zu stellen. Eine Studie mit über 300 Kindern zeigte beispielsweise, dass erfahrene Kinderärzt:innen in 90 % der Fälle dieselben Diagnosen stellten wie mit der ADOS-2.
2. Schwächen der ADOS-2
Die ADOS-2 weist mehrere methodische und praktische Schwächen auf, die ihre Aussagekraft und ihren Stellenwert als Diagnosetool limitieren:
• Veraltete diagnostische Grundlage: Sie basiert auf älteren Definitionen von Autismus und erfasst modernere Merkmale wie Camouflaging, weibliche oder atypische Präsentationen nicht adäquat.
• Fehlende Flexibilität: Die ADOS-2 ist nicht ausreichend in der Lage, geschlechtsspezifische Unterschiede oder komorbide Störungen wie Autismus und ADHS (AuDHS) zu erkennen. Dies führt häufig zu Fehldiagnosen oder übersehenen Fällen.
• Mangelnde Reliabilität: Studien zeigen, dass selbst klinisch geschulte Anwender:innen der ADOS-2 oft zu unterschiedlichen Diagnosen kommen, insbesondere bei subtilen Symptomen .
3. Die Bedeutung spezialisierter Fachkräfte
Spezialisierte Fachkräfte sind in der Lage, eine umfassendere und differenziertere Diagnose zu stellen. Dies ist besonders wichtig, da:
• Subtile Fälle erkannt werden können: Fachleute wissen, worauf sie achten müssen, etwa bei Personen mit hoher kognitiver Begabung oder sozialen Anpassungsstrategien.
• Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen berücksichtigt werden: Fachkräfte können z. B. zwischen Autismus, ADHS, Bindungsstörungen oder Traumafolgen differenzieren, was für die weitere Behandlung essenziell ist.
Ein guter diagnostischer Prozess geht über die Anwendung einzelner Instrumente hinaus. Er umfasst:
• Individuelle Anpassung der Tools: Die Wahl der Instrumente richtet sich nach der spezifischen Fragestellung, dem Alter, der Symptomatik und dem Kontext der Person.
• Spezifische Schulungen und Supervision: Fachkräfte müssen regelmäßig geschult und supervidiert werden, um aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu integrieren.
Fazit: Der Goldstandard liegt in der klinischen Expertise
Der wahre Goldstandard in der Autismusdiagnostik ist die fundierte klinische Beurteilung durch spezialisierte und erfahrene Fachkräfte. Ihre diagnostischen Entscheidungen basieren auf einem breiten Spektrum von Daten und Methoden. Das Einfordern der ADOS-2 als zwingendes Instrument ist daher nicht mehr zeitgemäß und wird der Komplexität der modernen Autismusdiagnostik nicht gerecht.
Quellen:
1. Attwood, T., & Garnett, M. (2023). Reviewing the ADOS for the Diagnosis of Autism.
Verfügbar unter: https://www.attwoodandgarnettevents.com/blogs/news/reviewing-the-ados-for-the-diagnosis-of-autism
2. Dr. Devon (2023). Guest Mythbuster Post: Is the ADOS-2 Really the Gold Standard in Autism Assessment?
Verfügbar unter: drdevon.com
3. Barbaresi, W., Cacia, J., & Friedman, S. (2022). Clinician Diagnostic Certainty and the Role of the Autism Diagnostic Observation Schedule in Autism Spectrum Disorder Diagnosis in Young Children. JAMA Pediatrics, 176(12), 1233–1241.
DOI: 10.1001/jamapediatrics.2022.3605
4. Langmann et al. (2017). Research in Autism Spectrum Disorders, 34, 34-43.
5. Taylor, L. J., et al. (2017). An Exploratory Study of the Diagnostic Reliability for Autism Spectrum Disorder. Journal of Autism and Developmental Disorders, 47(5), 1551–1558.
DOI: 10.1007/s10803-017-3054-z